Meer
Bei jedem Schritt knarrt der alte Dielenboden unter ihr, wirft Geräusche in die unwirkliche Stille dieses langen alten Flures. Staub wirbelt hoch und fällt zurück, wie sie in dieser Lethargie.
Weiße alte Türen flankieren den Weg wie Bäume eine Allee.
Von Lebendigem ist hier jedoch nichts zu spüren, auch ihr Herz schlägt langsamer, etwas fehlt.
Bodenlos die Luft, die sie atmet, zeitenstill dieser Traum.
Zögernd öffnet sie eine Türe links von ihr, betritt den Raum.
Alte verblichene Stofftapeten an den Wänden, weiß gefärbte Möbel, sie steht in einem Esszimmer.
Ordentlich an den gedeckten Tisch herangerückt: vier leere Stühle. Sie nähert sich. Auf dem Tisch eine Staubschicht und benutztes Geschirr, vertrocknete Kaffeereste in den Tassen, teils verzerrter Kuchen, verfallene Krümel auf den Tellern, angelehnte Gabeln. Die sorgsame Anordnung der Stühle passt nicht zu diesem eingefrorenen Bild eines hastigen Aufbruchs.
Wer ist hier wohl wann verloren gegangen?
Völlig geruchsneutral der Augenblick, so als befände sie sich in einem Foto und nicht wirklich in diesem Haus.
Die Bedrückung treibt sie aus dem Raum, sie zieht die Türe fest ins Schloss.
Im Flur lauscht sie, kein Laut außer ihrem Atem.
Was möchte ihr dieses verlassene Haus mitteilen?
„Du gehörst nicht hier her!“
Sie schreckt zusammen, drehet sich um, die Worte kommen in festem Tonfall von einem kleinen Mädchen, das nun vor ihr steht.
Erstaunt sieht sie das Mädchen an.
„Du gehörst nicht hier her!“, wiederholt dieses erneut in unbeirrtem Ton.
Demonstrativ sieht das Mädchen nach hinten links, dort erkennt die Frau eine Eingangstüre, die sie jetzt offensichtlich als Ausgang nutzen soll.
„Ah, die Wohnungstür.“, sagt sie erstaunt und offenbart damit, dass sie nicht durch diese herein gekommen ist.
„Ah?“, merkt das Mädchen nachdenklich an und mustert sie.
Die Frau nutzt den Moment und betrachte sie ebenfalls,
ein ausgeblichenes Kleid, lange dunkelbraune zu einem Zopf geflochten Haare, alte abgetragene Schuhe. In ihrer Farblosigkeit scheint das Mädchen mit den Wänden zu verschmelzen.
Auch wenn der Grund ihres Vorhandenseins hier unklar ist, sie gehört unübersehbar zu diesem Haus.
„Vielleicht gehörst Du doch hier her und bist nur sehr spät zurückgekommen.“, murmelt das Mädchen.
o Nein! Ich gehöre ganz sicher nicht zu diesem Ort! o
schreit etwas in der Frau, aber ihren Lippen entkommt ein „Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern.“
Noch einmal sieht das Mädchen sie prüfend an.
„Nun, es ist wie es ist. Und: Du brauchst mich nicht.“, sinniert sie, dreht sich um und lässt die Frau in ihrer Fassungslosigkeit stehen.
Der Boden bleibt still, kein Knarren begleitet Ihre Schritte.
Die Frau schließt für Sekunden die Augenlider, weil sie plötzlich einen Luftzug verspürt.
Als sie die Augen wieder öffnet, ist das Mädchen fort.
Aufmerksam versucht die Frau dem Lufthauch zu folgen, öffnet eine der anderen Türen.
Die Tür knarrt. Ein Wohnzimmer liegt vor der Frau.
Alte dunkelbraune Möbel, zwei Sessel und ein Sofa mit verblichenem rot-goldenen Stoffbezug. Links neben dem Sofa ein kleiner Beistelltisch. Fast raumfüllend liegt ein orientalisch wirkender Teppich auf dem Dielenboden.
Langsam geht Sie in dem Raum umher. Kleine staubige Porzellanfiguren stehen verlassen auf den Kommoden. Der Beistelltisch trägt eine Vase mit vertrockneten Blumen, die den Raum wohl einst mit süßlichem Duft erfüllten.
o Hier gab es einmal Leben. o
hallt etwas in der Frau nach.
Die Türe öffnet sich, im Türrahmen, noch die Klinke in der Hand, erscheint das kleine Mädchen.
Die Frau sieht sie fragend an.
„Es kommt! Geh lieber nach Oben.“, fast tonlos klingt die Stimme des Mädchens.
o Eine Warnung? Wovor? o
Die Frau spürt keine Bedrohung, nur dieses alte leere Haus, das auf ihr lastet.
„Was kommt? ... Ich möchte hier bleiben.“, antwortet sie dem Mädchen.
„Riechst Du es denn nicht?“, das Mädchen sieht die Frau fragend an.
Mit einem : „dann bleib“ fällt die Türe hinter dem Mädchen ins Schloss.
Erneut Stille, unterschwellig ein Rauschen, das die Frau bisher nicht wahrgenommen hatte.
Am anderen Ende des Raumes sieht sie eine Art Terrassentüre.
Es erscheint ihr völlig unvorstellbar, dass diese in sich verschlossen Wohnung einen Ausgang zu einem Garten haben könnte.
In der Mitte des Raumes bleibt sie unschlüssig stehen.
In ihr flüstert es:
o Es kommt. o
o Riechst Du es denn nicht? o
Nein, die Frau riecht es nicht, in ihrer Nase ist nur der Staub der verlassenen Zeit.
Aber die Frau schmeckt etwas. Salz. Ihr Herz schlägt schneller, wieder spürt Sie den Luftzug.
Die Frau sieht auf ihre Füße und den Teppich, er ist nass.
Ihr Blick gleitet an der Nässe entlang zur Terrassentüre, unter ihr, jetzt erkennt sie es, schwappt Wasser ins Zimmer.
Es fließt mit einer Wellenbewegung unter der Türe hinein und wieder fort, frisst sich in den Teppich, verdrängt den Staub.
Mit schnellem Schritt durchquert sie den Raum, öffnet die Türe. Vor ihr liegt, blickweit: das Meer. Die Bodenschwelle liegt auf dem Niveau der Wasseroberfläche und das Meer kommt Woge für Woge herein und zieht sich wieder zurück.
Nur ein Schritt und das Haus vergießt sie.